„Ein dauerhafter Waffenstillstand, das Ende des Blutvergießens ist ein erster, wichtiger Schritt. Aber jetzt müssen viele weitere folgen. Gaza ist völlig zerstört. Es existiert nicht einmal rudimentäre Infrastruktur, und das menschliche Leid ist unvorstellbar. Ich habe Videos von Hunden gesehen, die Leichen anfressen, und die Zahl der Todesopfer können wir nur erahnen“, sagt Younis Al Khatib. Allein für die Bekämpfung der Hungersnot brauche es jetzt mindestens tausend Hilfs-LKWs – pro Tag. Dazu Babynahrung, Hygieneprodukte, Medikamente. Und mittelfristig müsse auch noch ein weiteres menschliches Grundbedürfnis gestillt werden: Gerechtigkeit. „Alle, die gegen die Genfer Konvention verstoßen haben, müssen vor ein Gericht.“


Gaza: Ein humanitäres Katastrophengebiet schöpft Hoffnung
Der Präsident des Palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS) teilte auf seiner Wien-Visite unerträgliche Einblicke aus seiner Heimat. Und sagt, was Gaza jetzt braucht: täglich tausend LKW-Ladungen mit Hilfsgütern - und Gerechtigkeit.
Der Präsident des Palästinensischen Roten Halbmonds ist ein besonnener Mann, der seine Worte sorgfältig abwägt. Aber heute Morgen sind die Emotionen mit ihm durchgegangen. „Als ich die Nachrichten gehört habe, habe ich ,Hurra!‘ gerufen. Ich bleibe skeptisch, es müssen noch unzählige Probleme gelöst werden. Aber wir dürfen wieder ein wenig optimistisch sein.“
Es ist ein besonderer Tag, an dem Younis Al Khatib das Generalsekretariat des Österreichischen Roten Kreuzes besucht. „Vor zwei Tagen jährte sich der furchtbare Angriff der Hamas auf israelische Zivilist:innen zum zweiten Mal. Gestern vor 60 Jahren wurden in Wien die sieben Grundsätze des Roten Kreuzes beschlossen: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität“, erinnert ÖRK-Präsident Gerald Schöpfer. Und heute? Genau an dem Morgen, an dem Younis Al Kathib in Wien eintrifft, dominiert eine Meldung die Nachrichten: Israel und die Hamas haben sich auf die erste Phase eines Friedensplans geeinigt.
Was Gaza jetzt braucht

Gekommen, um zu helfen – nicht, um zu sterben
Diese Gerechtigkeit gebührt insbesondere auch all jenen, die ihr Leben in den Dienst der guten Sache stellen: den humanitären Helferinnen und Helfern. Ihre Rechte werden in diesem Konflikt seit zwei Jahren mit Füßen getreten: „Humanitäre Hilfe wird gezielt militarisiert, politisiert und kommerzialisiert. Der Schutz der neutralen Helfer:innen ist nicht gewährleistet: Alle Mitabeitenden, alle Freiwilligen haben hier schon Freunde verloren“, sagt Younis Al Khatib, „Sie wurden dafür ausgebildet, Leben zu retten – und nicht ihr eigenes geben zu müssen.“
Zwischen Oktober 2023 und September 2025 wurden 54 PRCS-Kolleg:innen getötet, davon 31 im Dienst (29 in Gaza, 2 im Westjordanland). 68 wurden verletzt, von 26 in Gaza verhafteten Kolleg:innen konnten drei nach wie vor nicht zu ihren Familien zurückkehren. Dabei sind die Arbeitsbedingungen bereits ohne die unmittelbare Gefahr für Leib und Leben an der Grenze des Erträglichen: „Wir haben keine Möglichkeit, unsere Teams aus Gaza heraus- oder neue Mitarbeitende hinein zu bekommen. Das heißt, die Mannschaften vor Ort sind seit zwei Jahren sieben Tage die Woche, 24 Stunden pro Tag im Einsatz.“
Der größte Wunsch: endlich wieder helfen können
Hält der Waffenstillstand, könnten endlich wieder Hilfsgüter geliefert werden, könnten humanitäre Hilfsorganisationen endlich wieder wirkungsvoll ihren ureigensten Aufgaben nachkommen: der neutralen, unvoreingenommenen Unterstützung für alle, die sie brauchen. „Jeder Tag, an dem die Arbeit unabhängiger Hilfsorganisationen erschwert oder verhindert wird, kostet Menschenleben – auf beiden Seiten“, klagt der PRCS-Präsident an, „Denn ein verletzter israelischer Soldat bekommt von uns die gleiche Hilfe wie ein verletzter palästinensischer Zivilist. Als humanitäre Hilfsorganisation stehen wir auf keiner Seite. Nur auf der Seite von Menschen, die Hilfe brauchen.“
Der Palästinensische Rote Halbmond auf einen Blick

• 3987 Mitarbeitende
• 13.412 Freiwillige und Vorstandsmitglieder
• 18 Lagerhäuser
• 15 Krankenhäuser
•160 Rettungswägen
• 7643 Erste-Hilfe-Maßnahmen, Ausgabe von 36.000 warmen Mahlzeiten und Gesundheits- und Notfalldienste für 108.000 Menschen (alles im August 2025)
5 Fakten über Dr. Younis Al Kathib

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Ist seit 2000 Präsident der Palästinensischen Roten Halbmond-Gesellschaft (PRCS)
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Kam schon als jugendlicher Freiwilliger zum Britischen Roten Kreuz
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War Direktor des Palästina-Krankenhauses in Kairo
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Hat einen Ehrendoktortitel in Philosophie, einen Master in Management und Organisationsentwicklung, einen Master in Öffentlicher Gesundheit und einen Bachelor in Betriebswirtschaft
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Arbeitet im PRCS-Hauptsitz in Al-Bireh, einer Stadt im Westjordanland