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Christopher Rassi und Michael Opriesnig
Wien, 27. Mai 2025 – Pressegespräch mit Christopher Rassi, stv. Generalsekretär der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, und ÖRK-Generalsekretär Michael Opriesnig

„Das Rote Kreuz ist Teil des Rückgrats unserer Gesellschaft“ C. Rassi

Was IFRC-Vize-Generalsekretär Christopher Rassi den Schlaf raubt, warum er Wut für unproduktiv hält und wieso er sicher ist, dass engagierte Menschen selbst im Zeitalter multipler Krisen die Welt retten können.

Christopher Rassi hat in seinem Leben schon viel Leid gesehen. Früher als Rechtsberater der Richter am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Tansania, als Ankläger am Sondertribunal für den Libanon in Den Haag oder als Lehrbeauftragter am War Crimes Research Lab der CWRU. Heute als Stabschef und stellvertretender Generalsekretär der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC). Doch wenn er von den Zuständen im Gazastreifen erzählt, wird sogar er emotional: „Wir haben den Punkt überschritten, in dem Worte die Situation adäquat wiedergeben können. Das Leid ist unerträglich. Es ist – wie der Präsident des Palästinensischen Roten Halbmonds letzte Woche sagte – ein Alptraum, der Tag für Tag schlimmer wird.“ Beim Besuch in Wien informierte der gebürtige Kanadier und Wahl-Genfer heimische Politiker:innen, Medienleute und Vertreter:innen des Österreichischen Roten Kreuzes über diesen und andere Krisenherde. Zwischendurch fand er auch Zeit für ein persönliches Gespräch über den Zustand der Welt. Und stellte klar, warum er trotz allem Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat.

ÖRK: Herr Rassi, Sie sind in Wien, um Aufmerksamkeit für Krisen und Katastrophen, Kriege und Hungersnöte zu wecken. Wollen wir unser Gespräch trotzdem mit einem hoffnungsvollen Gedanken beginnen? Sagen Sie uns doch bitte, welches Erfolgserlebnis Sie zuletzt mit Optimismus erfüllt hat!  

Christopher Rassi: Dieses Gefühl habe ich jeden Tag. Heute Morgen haben wir zusammen überlegt, wie wir noch mehr Menschen erreichen können, wie wir für noch bessere Unterstützung in Krisengebieten sorgen können. Wir haben geplant und diskutiert – das war ein herrlich positives Erlebnis. Ich erlebe auch bei jeder Reise in ein Krisengebiet viele positive Momente: bei den Treffen mit Mitarbeitern der Nationalen Hilfsorganisationen, mit freiwilligen Helfer:innen, mit den Communities und ihren Vertreter:innen. Sie begegnen den schwersten Herausforderungen mit einem Lächeln, mit Optimismus und Hingabe.

ÖRK: Und was sind die Themen, die Sie nachts nicht schlafen lassen?

Christopher Rassi: Da gibt es viele. Wie können wir unsere begrenzten Ressourcen bestmöglich einsetzen und wie entscheiden wir, welche Maßnahmen den größten Nutzen bringen? Schaffen wir es, genug Aufmerksamkeit für die Krisen der Welt zu erregen? Sind wir auf mögliche künftige Krisen gut genug vorbereitet? Sind wir logistisch gut genug aufgestellt, um rasch genug Hilfsgüter in Krisengebiete liefern zu können? Was könnten wir tun, um mehr Leben zu retten? Sind unsere Teams sicher? Ich könnte die Liste endlos fortführen.

Ein Mitarbeiter des Ukrainischen Roten Kreuzes steht vor den Trümmern eines Wohnhauses

ÖRK: Stichwort multiple Krisen: Es wirkt, als ginge unsere Welt den Bach runter. Oder bekommen wir heute Katastrophen und Konflikte durch die (Sozialen) Medien nur schneller, öfter und intensiver vor Augen geführt als früher? 

Christopher Rassi: Leider nein. Wir mussten noch nie so viele Krisen parallel stemmen wie heute. Allein in der Ukraine findet eine der größten Hilfsoperationen unserer Geschichte statt, 60 Rotkreuz-Organisationen sind daran beteiligt. Die Mehrzahl der weltweiten Krisen und Katastrophen schafft es aber gar nicht in die Schlagzeilen …

ÖRK: Welche zum Beispiel?

Christopher Rassi: Etwa Cholera-Epidemien oder Ausbrüche von Affenpocken und Ebola, für deren Bekämpfung nur geringe Ressourcen zur Verfügung stehen. Dabei wären schnelle und effektive Maßnahmen nicht nur für die Communities selbst extrem wichtig, sondern für die gesamte Weltgesundheit. Massive Nahrungsmittelknappheit in Zentralafrika, in der Demokratischen Republik Kongo. Oder der Konflikt im Sudan mit der global größten innerstaatlichen Flüchtlingswelle, mit ungenügender Nahrungs- und Gesundheitsversorgung für Millionen. Ja, es gelingt uns, vielen Krisen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber es braucht auch politische Lösungen und noch viel mehr Ressourcen, um sie zu bekämpfen.

ÖRK: In einer Keynote vor den Vereinten Nationen haben Sie kürzlich die wichtigsten Herausforderungen aufgezählt, denen wir uns stellen müssen: politische Instabilität, zunehmende Extremwetterereignisse, die wachsende Gefahr von Epidemien, Rekordzahlen von Flüchtlingen und Vertriebenen, mehr bewaffnete Konflikte, weniger Respekt vor Menschenrechten … Unwahrscheinlich, dass wir uns noch einmal aus dieser Sackgasse herausmanövrieren können, oder?

Christopher Rassi: Kein Grund, aufzugeben!

ÖRK: Aber Sie sagen selbst: Jedes dieser Themen sei zwar für sich genommen lösbar. Die große Herausforderung stelle aber dar, dass alle miteinander zusammenhängen …

Christopher Rassi: Das stimmt. Aber denken Sie nur, wieviel wir in den letzten zehn Jahren dazugelernt haben, wenn es um globale Gesundheitskrisen geht. Wie viele Freiwillige wir ausgebildet haben, wieviel Expertise wir in die Communities getragen haben, die uns auch in Zukunft nützlich sein wird. Sehen Sie sich die kollektive Antwort auf COVID an. Daraus konnten wir so wertvolle Lehren für künftige große Gesundheitskrisen ziehen. In Uganda haben wir auch nach der Eindämmung des Ebola-Ausbruchs weiterhin Freiwillige ausgebildet und gut ausgestattete Teams stationiert. Auf künftige Krisen vorbereitet zu sein, besonders auf der Ebene lokaler Communities, macht uns alle sicherer – auch wenn es Geld kostet. 

ÖRK: Leider sehen das nicht alle so. Sie warnen, ich zitiere: „Immer mehr Menschen werden ermutigt, das Leid von anderen als deren Angelegenheit zu betrachten“. Warum kommt Mitgefühl aus der Mode?

Christopher Rassi: Ich habe ein wenig Verständnis dafür. Jeder hat doch seine eigenen Probleme, jeder muss sich um sein eigenes Leben und die Menschen rund um ihn kümmern. Aber wir müssen uns auch vor Augen führen, dass wir alle Weltbürger sind. Jeder und jede von uns ist Teil einer globalen Gemeinschaft, und es ist essenziell, dass wir einander gegenseitig unterstützen. Als freiwillige Helfer:innen, durch erlernte Fähigkeiten, durch das Zur-Verfügung-Stellen von Ressourcen. Es hat noch niemand bereut, Mitgefühl zu haben oder sich zu engagieren …

ÖRK: Das hat schon Rotkreuz-Gründer Henry Dunant so ähnlich gesagt.

Christopher Rassi: Erwischt! Aber ich habe dem Zitat meinen eigenen Twist gegeben.

ÖRK: Sie haben gerade die wertvolle Arbeit freiwilliger und hauptberuflicher Helfer angesprochen. 2024 wurde eine Rekordzahl von Mitarbeiter:innen der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (IFRC) getötet, 95 Prozent davon nationale Mitarbeiter:innen und Freiwillige. Geht der 150 Jahre alte Respekt vor den neutralen Helfer:innen verloren?

Christopher Rassi: Wenn humanitäre Arbeiter und Freiwillige lebensrettende humanitäre Arbeit leisten, tragen sie unsere Embleme. Die Embleme, die wir alle haben, die jahrelang geschützt wurden, sollten als virtuelle Schilde fungieren, weil das alles ist, was die Humanitären haben. Darum drehen sich auch alle unsere Diskussionen mit Behörden auf der ganzen Welt um den Punkt, den Schutz des humanitären Personals zu gewährleisten. Die Behörden müssen verstehen, dass humanitäres Personal niemals Teil des Konflikts ist. Und sie müssen sicherstellen, dass diejenigen, die ausgebildet werden, Leben zu retten, nicht ihr Leben verlieren müssen, während sie ihre Mission ausführen. Das ist keine politische Diskussion, sondern ein humanitärer Appell.

Ein Mitarbeiter des Roten Halbmonds geht durch Trümmer

ÖRK: Allein in Gaza wurden 36 IFRC-Mitarbeiter:innen getötet, dazu noch vier Mitarbeiter:innen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) …

Christopher Rassi: … und das macht mich sehr wütend. Aber es reicht nicht, wütend zu sein. Wir müssen mit unserer Arbeit weitermachen. Der humanitäre Imperativ, das Prinzip der Mitmenschlichkeit prägt alles, was wir tun. Und das wird auch weiterhin so bleiben.

ÖRK: Im Gazastreifen sorgte zuletzt eine private Hilfsorganisation für Diskussionen. Ihre Meinung dazu?

Christopher Rassi: Ich kann dazu nur sagen, dass diese Foundation nicht mit unseren Grundprinzipien vereinbar ist, mit Neutralität und Unabhängigkeit. Unsere humanitären Prinzipien stehen in Konflikt zu diesen Formen der Hilfeleistung. Private Hilfsorganisationen sind kein Ersatz und keine Alternative zu der Arbeit, die die Mitarbeiter:innen der Rotkreuz- und Rothalbmond-Organisationen leisten. Die Mitarbeiter:innen der Rotkreuz- und Rothalbmond-Organisationen  sind Teil des Rückgrats unserer Gesellschaft. Sie sind nicht von ihr trennbar, nicht verdrängbar, nicht ersetzbar.

ÖRK: Haben Sie eine Botschaft für die Heldinnen und Helden, die in Rotkreuz- oder Rothalbmondorganisationen arbeiten oder sie unterstützen?

Christopher Rassi: Sie brauchen keine Extra-Motivation von mir, weil sie bereits jeden Tag aus eigenem Antrieb und vollem Herzen alles geben, um Normalität, Würde und Freude in ihre Gemeinschaften zu tragen. Aber ich möchte ihnen sagen, dass wir, die stellvertretend für sie sprechen dürfen, hier sind, um sie in jeder vorstellbaren Art zu unterstützen. Danke, danke, danke für euren Einsatz und die fantastische Arbeit, die ihr jeden Tag leistet! 

4.6.2025

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