Philippe Stoll vom IKRK und ein weiterer Mann stehen vor einer Projektion der interaktiven Installation von "Digital Dilemmas" in New York, im UNO Headquarter.
Auch Technologie braucht Menschlichkeit - Interview mit Philippe Stoll vom IKRK
Wenn künstliche Intelligenz über Nahrung, Schutz oder medizinische Hilfe entscheidet, geht es um weit mehr als nur Effizienz. Philippe Stoll ist „Techplomat“ beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes – und sorgt dafür, dass gerade bei der humanitären Hilfsorganisation auch in Zeiten digitaler Umbrüche der Mensch im Mittelpunkt steht.
Denkt man ans Rote Kreuz, denkt man zuerst vermutlich ans Blutspenden und an Rettungsdienste, an Katastrophenhilfe, an einen neutralen Akteur in bewaffneten Konflikten. Aber nicht an Künstliche Intelligenz, an Drohnen und Cloud-Server, an die Gefahr von Cyberattacken. Dabei sind humanitäre Hilfsorganisationen längst abhängig von der Technik – die sich stets weiterentwickelt. Doch wie viel Empathie steckt in den Maschinen und Algorithmen und wie kann eine humanitäre und verantwortungsvolle Nutzung neuer Technologien garantiert werden? Fragen, mit denen sich Philippe Stoll seit Jahren intensiv auseinandersetzt und die ihn Ende Oktober 2025 zu einem Vortrag nach Wien geführt haben.
Der Mensch im Mittelpunkt
Philippe Stoll, Jahrgang 1972, stammt aus der französischsprachigen Schweiz. Er studierte zuerst Wirtschaft und Journalismus, danach arbeitete er als Multimedia-Redakteur bei einer lokalen Tageszeitung. 2003 wechselte er zum Internationalen Komitee des Roten Kreuz (IKRK) in Genf. Anfangs war er selbst „im Feld“ unterwegs und unterstützte nationale Komitees des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds in Sierra Leone, Somalia, Indien und Israel beziehungsweise Palästina bei ihrer Arbeit; 2022 war er auch in der Ukraine im Einsatz.
Doch aktuell beschäftigt er sich weniger mit handfesten Hilfstätigkeiten in Krisen-, Kriegs- oder Katastrophengebieten. Sondern mit technischen Entwicklungen, die auf die tägliche Arbeit einer humanitären Hilfsorganisation wie dem Roten Kreuz massive Auswirkungen haben: „Dabei bin ich selbst kein ‚Tech-Nerd‘. Aber mich hat immer schon interessiert, wie Technologie die Gesellschaft verändert. Und ich bin, wenn man so sagen will, davon besessen, komplexe Zusammenhänge auf möglichst verständliche Weise zu erklären. Denn eine Frage wird auch für unser immer wichtiger: Wie gelingt es, die Menschlichkeit im Zentrum aller Bemühungen zu bewahren, wenn Entscheidungen zunehmend von Algorithmen, also von Maschinen, getroffen werden?“
Zumal die KI, also die wortwörtlich „künstliche Intelligenz“, für Philippe Stoll etwas ganz anderes ist als die menschliche Intelligenz: „Es macht mir Sorgen, wenn ich sehe, dass Maschinen entscheiden, ob jemand Essen oder medizinische Hilfe bekommt. Ja, Menschen haben Schwächen: Sie haben Vorurteile, sie werden müde und erschöpft und damit fehleranfällig. Dennoch steht der menschliche Aspekt für uns immer im Vordergrund. Im Endeffekt zählt immer der Mensch – und nicht der Algorithmus.“
Der Techplomat
Seit Sommer 2022 trägt seine Funktion den hochmodernen Titel „Senior Techplomacy Delegate“ – was sich am ehesten mit „leitender Delegierter für Technologiediplomatie“ erklären lässt. Doch tatsächlich beginnt sich statt dem sperrigen Begriff auch im deutschen Sprachraum nach und nach die Kurzform „Techplomatie“ zu etablieren. „Der Begriff wurde vor rund zehn Jahren in Dänemark geprägt. Sie waren die Ersten, die erkannt haben, dass man große Technologiekonzerne wie Staaten behandeln muss, mit denen man diplomatische Beziehungen unterhalten sollte …“
In seiner Rolle als Techplomat trifft Philippe Stoll deshalb immer wieder Vertreter der weltgrößten High-Tech-Unternehmen: „Anfangs waren sie wohl ein wenig überrascht, dass das Rote Kreuz Kontakt zu ihnen gesucht hat. Aber sie finden es spannend, wenn wir mit ihnen über ihre Entwicklungen aus Sicht der Menschlichkeit, der humanitären Hilfe sprechen.“
Digitale Dilemmata
Denn gerade in Krisenregionen unterscheidet sich die Datenlage oft deutlich von jener in der sogenannten „Ersten Welt“, sagt Philippe Stoll: „Es kommt zu spannenden Diskussionen, wenn wir die Entwickler fragen: Habt ihr darüber nachgedacht, ob sich eure Tools im Südsudan, Bangladesch oder Myanmar wirklich anwenden lassen? Kann eure KI all diese regionalen Dialekte überhaupt verstehen? Versteht sie die regionalen Kulturen und Herausforderungen?“
Philippe Stoll hat ein Konzept samt dazugehöriger Homepage entwickelt, das fast schon spielerisch auf problematische Szenarien eingeht. Mit der multimedialen „Digital Dilemmas Experience“ (https://digital-dilemmas.icrc.org/) will er Bewusstsein für moderne Bedrohungsszenarien schaffen: „Es geht darum, auf digitale Risiken hinzuweisen, die im echten Leben direkte Auswirkungen auf Menschen haben. Denn was wir festgestellt haben: Auch wenn du selbst nie in einem Kriegsgebiet warst, kannst du dir in etwa vorstellen, was Bomben, Hunger oder Folter bedeuten. Aber die Folgen von Cyberangriffen sind viel zu abstrakt.“
Grundsätze als großer Vorteil
Innerhalb des IKRK wird Philippe Stoll von einer wachsenden Gruppe an Kolleginnen und Kollegen rund um den Globus unterstützt: „Unsere Überlegungen finden in multi- beziehungsweise transdisziplinären Teams statt, die aktuell aus insgesamt rund 150 Personen bestehen.“ Unterstützt wird er von Expertinnen und Experten an mehreren Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen: „Das hilft uns dabei, am neuesten Stand zu bleiben.“ Wichtig ist ihm dabei, einen gewissen Grundoptimismus zu bewahren: „Wenn man – wie ich – die Entwicklungen seit längerer Zeit verfolgt, dann sieht man: Ja, die Technik schreitet schnell voran. Aber auch nicht so schnell, dass man das Gefühl haben muss, dass man sowieso nichts mehr tun kann. Das stimmt nicht, wir können sehr wohl sehr viel bewirken.“
Was sich bei allen Überlegungen und Forderungen rund um den technischen Fortschritt als größter Vorteil des Roten Kreuzes entpuppt, sind dessen historischen Werte, sagt Philippe Stoll: „Die sieben Grundsätze unserer Arbeit, die 1965 festgeschrieben wurden, garantieren uns heute einen unverrückbaren Rahmen. Wir können Entscheidungen bei Fragen zum Einsatz neuer Technologien immer anhand unserer Prinzipien treffen: Sind Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit garantiert?“
Wahrnehmung und Vertrauen Ohne technologische Hilfsmittel wäre humanitäre Hilfe heute natürlich kaum mehr denkbar; Kommunikation, Koordination, das Erfassen von Lagerständen – längst funktionieren die wesentlichsten Tätigkeiten in erster Linie digital. Dennoch gibt es Entwicklungen, die das Rote Kreuz nach intensiven Überlegungen nicht in seine Arbeit implementiert. „Vor 15 Jahren kamen die Drohnen auf, und wir haben natürlich überlegt, sie einzusetzen“, sagt Philippe Stoll. „Sie sind günstiger als Helikopter und können bei unpassierbaren Straßen Hilfsgüter in schwer erreichbare Gegenden transportieren.“
Doch längst geht es bei Technik nicht mehr nur um ihre reinen Nutzen: „Wir müssen die Wahrnehmung in unsere Entscheidungen einfließen lassen: Drohnen werden heute viel zu oft zur Überwachung eingesetzt, oftmals auch als Waffen. Würden wir sie über ein Konfliktgebiet fliegen lassen, würde sie vermutlich rasch abgeschossen werden, weil sie als Bedrohung gesehen wird. Viele Menschen haben kein Vertrauen zu Drohnen am Himmel.“
Daten müssen geschützt bleiben
Mit dem technischen Fortschritt kommen – nicht nur für das Rote Kreuz – neue Herausforderungen und Risiken. Eine Kernfrage für Philippe Stoll ist: Wie schützen wir unsere persönlichen Daten? Ein praktisches Beispiel ist die biometrische Registrierung von Fingerabdrücken: Seit 2010 sei das zu einem sehr populären (weil einfachem) Weg geworden, Hilfsleistungen schneller und fälschungssicher an Flüchtlinge, Vertriebene, an Angehörige von Verschwundenen zu vergeben: „Doch was passiert, wenn es zu einem Datenleck kommt? Wenn eine bewaffnete Einheit erfährt, welche vulnerablen Menschen wir genau finanziell unterstützen?“
Das führt zu einer Überlegung von weltweiter Spannweite: Auf welchen Servern speichert das IKRK seine teils hochsensiblen Daten? „Es ist natürlich egal, wo wir die Speisekarten der Kantinen archivieren.“ Der Umgang mit anderen Informationen erfordert hingegen höchste Vorsicht. Das liegt an einem US-Gesetz, dem sogenannten „US Cloud Act“, das besagt, dass Anbieter von Cloud-Lösungen behördlichen Zugang zu Daten gewähren müssen, wenn es eine gerichtliche Anordnung in den USA gibt – selbst, wenn die Daten außerhalb der USA gespeichert wurden.
Hinzu kommt der „US Patriot Act“, erklärt Philippe Stoll: „Dieses Gesetz besagt, dass jeder Mensch, jede Organisation unter Beobachtung gestellt werden kann, die mit sogenannten Terroristen in Verbindung stehen könnte.“ Und das kann das IKRK direkt betreffen: „Zu unseren Stärken zählen ja gerade unsere Unparteilichkeit und unsere Neutralität. In Kriegs- oder Konfliktsituationen sprechen wir mit allen beteiligten Seiten. Würden Informationen über diese Kommunikation öffentlich werden, könnte das uns und unsere Gesprächspartner in sehr schwierige Situationen bringen. Wir würden das Vertrauen verlieren, dass viele Menschen in uns haben.“
Von der Kraft der Menschlichkeit
Tatsache ist: Zugang zu Technik ist für Menschen in Krisensituationen (und natürlich nicht nur da) mittlerweile ebenso wichtig wie Nahrung und eine sichere Unterkunft. „Wir sehen immer wieder Menschen, die praktisch alles verloren haben. Aber sie haben weiterhin ihr Handy, mit dem sie mit Anderen in Verbindung bleiben können.“
Dazu fällt Philippe Stoll aber eine Geschichte ein, die ihren Ursprung in der jahrzehntelangen Praxis der Familienzusammenführungen durch das Rote Kreuz hat: „Es gibt diese Rotkreuz-Nachrichten, die fast so alt sind wie unsere Bewegung selbst. Wir dachten, dass sich das eigentlich überlebt hätte, seit sich Menschen via Handy oder anderer Mobilgeräte austauschen. Aber sie lieben es weiterhin, handschriftliche Nachrichten von Familienmitgliedern zu bekommen!“
Für Philippe Stoll das perfekte Beispiel, wie wertvoll Menschlichkeit in einer digitalisierten Welt ist – und bleibt: „Natürlich ist die Technik unglaublich wichtig. Aber sie ist nicht alles. Ein handgeschriebener Brief weckt viel intensivere Emotionen als eine SMS oder ein Mail und trägt überraschend stark zum Wohlbefinden der Menschen bei.“