Camilla, herzlichen Dank für deine Zeit. Wie man in Österreich den Medien entnehmen kann, verschärft sich die Situation in Kyiv zunehmend. Die Drohnen- und Raketenangriffe werden mehr, die Zahl der Toten und Schwerverletzten – auch in der Zivilbevölkerung steigen stetig. Wie geht es dir persönlich in dieser Situation?
Über Weihnachten reise ich drei Wochen zurück und mache Urlaub in Österreich, deshalb ist die Arbeit gerade noch ein bisschen intensiver als sonst. Aber so weit ist hier alles gut, vielen Dank.
Wie sieht deine Arbeit als Delegationsleiterin aus? Ich nehme an, das ist kein normaler 40-Stunden-Job …
Nein, mit 40 Stunden geht sich das nicht so ganz aus (lacht). Aber ich habe ein großartiges Team, auf das ich mich jederzeit verlassen kann. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht tatsächlich aus Personalmanagement; außerdem fällt das Sicherheitsmanagement für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meinen Verantwortungsbereich. Und dann geht es natürlich um die Koordination mit unseren Partnern vor Ort, um die gemeinsamen Projekte mit dem ukrainischen Roten Kreuz bestmöglich umsetzen zu können und sicherzustellen, dass unsere Hilfe dort ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird.
Dein Büro liegt in Kyiv, der Hauptstadt der Ukraine. Die Stadt wurde zuletzt verstärkt zum Ziel russischer Drohnen- und Raketenangriffe. Wie wirkt sich das auf dich und deine Arbeit aus?
Die Angriffe auf Kyiv sind in den vergangenen Wochen und Monaten immer intensiver geworden, die Anzahl der getöteten Zivilistinnen und Zivilisten ist dramatisch gestiegen. Damit verbunden werden auch unser Arbeitspensum und das Stresslevel größer. Ein großer Unterschied zu meiner Arbeit in Wien ist der enge Kontakt mit der Bevölkerung; wir sehen hier ganz genau, wie es den Menschen geht und wie wir helfen können.
Und wie wirkt sich dieser Stress auf dich persönlich aus?
Wir haben vor allem sehr kurze Nächte, der Schlaf wird immer wieder von Sirenen unterbrochen. Sobald es einen Alarm gibt, müssen wir uns in Sicherheit bringen, entweder in Schutzkellern oder zumindest in Schutzräumen. Das führt dazu, dass hier eigentlich alle permanent übermüdet sind. Aber gerade dieses Bewusstsein, dass wir alle das Gleiche durchmachen, führt zu großer Solidarität und oftmals berührenden Begegnungen.
Welche, zum Beispiel?
Oft sind es nur Kleinigkeiten. Vor wenigen Tagen hatten wir eine Nacht lang, wirklich neun Stunden durchgehend, Luftalarm. Es war extrem laut, niemand konnte schlafen. Am nächsten Morgen war ich in einem Café frühstücken – und dann haben die Besitzer des Café allen Gästen kleine Süßigkeiten hingestellt und dazu gesagt: „Das war eine furchtbare Nacht. Vielleicht macht es dieses Gebäck ein bisschen leichter.“
Kann man sich an die Gefahr jemals gewöhnen?
Die Menschen entwickeln gewisse Routinen, wie sie mit der Gefahr und ihren Folgen umgehen. Man kann sich wirklich an Vieles gewöhnen oder zumindest anpassen. Zum Beispiel an die permanenten Stromausfälle. Und da reden wir nicht von kurzfristigen Stromausfällen, sondern von stundenlangen, geplanten Stromabschaltungen. Die Infrastruktur in der Ukraine leidet ja massiv unter den Angriffen. Aber wir haben in Kyiv mittlerweile eine App, über die wir über bevorstehende Abschaltungen des Netzes informiert werden – und so können wir zumindest ein bisschen planen, wann wir duschen, kochen oder Wäsche waschen können.
Welche Sicherheitsvorkehrungen müsst ihr für euch persönlich treffen?
Aufgrund der regelmäßigen Drohnen- und Raketenangriffe wohnt unser Team maximal im 6. Stockwerk, auch damit wir notfalls rasch zu Fuß nach unten kommen. Gleichzeitig gilt, dass über unserer Wohnung noch mindestens zwei Stockwerke sein müssen – für den Fall, dass durch die Luftabwehr Drohnen- oder Raketenteile aufs Dach stürzen. Und wir achten darauf, dass es im Inneren einen Raum gibt, der durch mindestens zwei Wände von der Außenwelt getrennt ist. Oft ist es ein Badezimmer, in dem wir vor Drohnenangriffen Schutz suchen.
Wie gehst du mit deiner eigenen Angst um? Und mit der Sorge, in der deine Verwandten und Freundinnen und Freunde in Österreich doch sicher leben müssen?
Wir haben hier Anspruch auf professionelle psychosoziale Betreuung und wir achten besonders gut aufeinander. Und mit meiner Familie und meinen engsten Freunden stehe ich natürlich in engem Kontakt. Dadurch, dass ich recht gut einschätzen kann, wann welche Nachrichten aus der Ukraine in den österreichischen Medien aufschlagen, kann ich mich normalerweise vorher kurz melden und ihnen zumindest schreiben, dass ich okay bin. Aber ich verstehe ihre Sorgen natürlich: Wenn ich zwischendurch ein paar Tage in Wien bin, mache ich mir viel größere Gedanken um das Wohlbefinden meiner Kolleginnen und Kollegen, als wenn ich direkt bei ihnen bin.
Du hast vorhin ein Café angesprochen, in dem du frühstücken warst. Heißt das, es gibt schon noch einen „normalen“ Alltag, wie wir ihn hier in Österreich kennen?
Ja – und das ist sehr wichtig für die Menschen hier. Wir gehen ins Kino und ins Restaurant, die Leute gehen ins Theater und manchmal tanzen. Weiter im Osten des Landes, also näher an der Front, gibt es das alles nicht mehr. Aber das Bedürfnis nach „Normalität“ ist größer als je zuvor. Und die Resilienz der Ukrainer und Ukrainerinnen ist beeindruckend. Als vor ein paar Wochen eines der Lokale hier in der Nähe unseres Büros zerstört wurde, nachdem im Haus gegenüber eine Rakete eingeschlagen ist, hat es nur ein paar Tage gedauert, bis es wieder geöffnet war. Zwar waren die zerbrochenen Scheiben mit Brettern zugenagelt und um das Loch im Boden haben sie zur Absperrung ein paar Sesseln hingestellt – aber sie haben den Betrieb dennoch wieder aufgenommen. Das Leben muss ja weitergehen.
Hier in Österreich bereiten wir uns gerade aufs Weihnachtsfest vor, die Straßen sind geschmückt, überall gibt es Christkindlmärkte. Sind die Menschen in Kyiv in Weihnachtsstimmung?
Das ist eine spannende Entwicklung: Bis vor wenigen Jahren wurde hier hauptsächlich das orthodoxe Weihnachten Anfang Jänner gefeiert – aus Protest gegen Russland und als Zeichen der Annäherung an den Westen feiern aber jetzt immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer Weihnachten am 24. Dezember. Und tatsächlich stehen in Kyiv in vielen Geschäften und Lokalen bunt geschmückte Weihnachtsbäume; es gibt auch einen Weihnachtsmarkt – allerdings fällt natürlich Beleuchtung aus, wenn der Strom wieder einmal abgedreht wird ...
Apropos Beleuchtung: Wie bewegt man sich durch eine Großstadt wie Kyiv, wenn der Strom ausfällt?
Es ist tatsächlich erstaunlich, wie stockdunkel es abends oder in der Nacht wird, wenn die Beleuchtungen ausfallen! Und besonders gefährlich wird es natürlich im Winter, wenn die Straßen vereist sind. Aber auch hier wissen sich die Leute zu helfen: Die Menschen leuchten einfach mit dem Handy den Weg vor ihnen aus, um Schlaglöcher zu vermeiden…
Weihnachten bedeutet hierzulande sehr oft: strahlende, erwartungsvolle Kinderaugen? Wie erlebst du die Situation der Kinder in Kyiv? Wie gehen sie mit dem Leben in diesem bewaffneten Konflikt um?
Was auffällig ist: Man sieht deutlich weniger Kinder als früher in den Straßen; es sind ja sehr viele Familien geflüchtet. Aber für die Kinder, die da sind, hat sich der Alltag komplett verändert. Wenn ein Luftalarm losgeht, müssen sie sofort in die Bunker flüchten – das heißt, der Kindergarten oder der Schulunterricht wird dann unterbrochen, damit sie sich in Sicherheit bringen können. Mittlerweile sind Schulen besser ausgestattet mit eigenen Schutzräumen, aber du siehst trotzdem immer wieder Klassen auf den Straßen, die sich rasch auf den Weg in den nächsten Bunker machen. Noch schlimmer ist aber, dass sie permanent mit Themen konfrontiert werden, mit denen Kinder eigentlich nicht konfrontiert sein sollten.
Kannst du uns ein Beispiel geben?
Ein Programm, das wir als Rotes Kreuz unterstützen, heißt „Mine-Awareness“, also Minenaufklärung: Speziell im Osten des Landes sind große Gebiete vermint, und das ist für spielende Kinder lebensgefährlich. Deshalb müssen sie lernen, wie sie Minen erkennen. Und auch in Kyiv müssen sich die Kinder bewusst werden, dass sie Waffenteile und Überreste von Drohnen und Raketen nicht anfassen dürfen. Das sind natürlich keine Spielsachen.
Apropos Spielsachen: Gibt es eigentlich noch Spielplätze in Kyiv? Und werden die genutzt?
Kinder sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Aber, ja, es gibt noch Spielplätze. Und einer ist ein besonders schönes Beispiel für die Widerstandskraft der Bevölkerung: 2022 wurde ein Park von einer Rakete getroffen, der Spielplatz war komplett zerstört – zum Glück so zeitig in der Früh, dass es keine Opfer zu beklagen gab. Aber diesen Park und vor allem den Spielplatz haben sie neu aufgebaut, und er ist schöner und beeindruckender als zuvor.
Gerade für vulnerable Gruppen ist das Leben in der Ukraine zurzeit wohl besonders schwer …
Absolut! Tatsächlich sind in der Ukraine insgesamt fast 13 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe von Organisationen wie dem Roten Kreuz angewiesen.
Genau, darauf wollte ich hinaus: Wie könnt ihr, wie kann das Rote Kreuz konkret helfen? Wofür verwendet ihr das Geld, das die Menschen aus Österreich in die Ukraine spenden?
Wir unterstützen mehrere Projekte. Einerseits ist es im Winter wieder sehr wichtig, speziell den direkt Betroffenen in den Frontgebieten im Osten der Ukraine Geld zur Verfügung zu stellen, damit sie sich Brennmaterial kaufen und wenigstens einen Raum heizen können. Im Winter wird es wirklich kalt, im Vorjahr hatten wir in Kyiv bis zu minus 17 Grad. Das ist nicht nur unangenehm – das ist lebensgefährlich, wenn die Fenster kaputt sind, insbesondere für ältere Menschen! Und neben der Winterhilfe sind Gesundheit und soziale Dienste zwei Themen, bei denen wir uns stark engagieren.
Bitte erzähl uns ein bisschen mehr davon.
In der Ukraine, vor allem im Osten und Süden, wurden sehr viele Kliniken und Krankenhäuser beschädigt oder sogar zerstört. Deshalb gibt es 120 mobile Gesundheitseinrichtungen, 30 davon unterstützen wir vom Österreichischen Roten Kreuz. Ärztinnen, Ärzte und Krankenpersonal fahren in entlegenste Orte und sorgen dort für eine medizinische Grundversorgung. Allein unsere Teams erreichen damit 5.000 Menschen pro Monat. Vor allem Personen, die nicht mobil sind, die an chronischen Krankheiten leiden und essenzielle Medikamente benötigen.
Ein zweites ganz wichtiges Programm ist die Hauskrankenpflege. Da geht es in erster Linie um persönliche Hygiene und kleinere medizinische Hilfsdienste, speziell für ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen. Es gibt so viele bettlägerige Frauen und Männer, die kaum Sozialkontakte haben und sich unendlich freuen, wenn zwei, drei Mal pro Woche jemand vom Roten Kreuz bei ihnen vorbeischaut und sich um sie kümmert.
Du sitzt ja selbst nicht nur die ganze Zeit im Büro, sondern kommst auch viel im Land herum, sprichst viel mit den Menschen. Wie reagieren Ukrainerinnen und Ukrainer, wenn sie sehen, dass jemand vom Roten Kreuz für sie da ist?
Meistens wollen sie als erstes wissen, warum man überhaupt hier ist und warum man sich das antut, in ein Land wie die Ukraine, in dem Krieg herrscht, zu fahren. Und sie sind immer enorm dankbar, dass jemand da ist und damit zeigt: Die Welt hat nicht auf sie vergessen, die Welt lässt sie nicht allein.
Wir haben anfangs erwähnt, dass die Lage in Kyiv, aber auch in der ganzen Ukraine, immer extremer wird. Was bedeutet das für das Engagement des Roten Kreuzes, was bedeutet es für dein persönliches Engagement?
Der Konflikt dauert jetzt vier Jahre, die Ressourcen der ukrainischen Regierung werden immer knapper. Die Arbeit humanitärer Hilfsorganisationen wird nicht weniger, sondern im Gegenteil immer mehr. Wir werden hier weiterhin sehr gebraucht. Und das bedeutet auch, dass wir die Menschen in Österreich, die Menschen in Europa noch stärker sensibilisieren müssen: Je länger die Situation andauert, umso dramatischer wird sie für die Betroffenen. Und umso wichtiger ist es zu helfen.
Interview: Hannes Kropik