EINE GEMEINSCHAFT, DIE DURCH WERTE UND MENSCHLICHKEIT VERBUNDEN IST
Stefan Loseries (rechts) von der Abteilungen Marketing und Kommunikation im Gespräch mit Vizepräsident und Landeskurat Michael Gruber (Mitte) sowie dem langjährigen ehemaligen Leiter des Jugendrotkreuzes, Johann Windisch (links), über Wallfahrt, Jugend und Seelsorge.
Stefan Loseries: Am 4. Oktober fand die bereits 10. Rotkreuz-Wallfahrt nach Mariazell statt. Welche besondere Bedeutung hat diese Wallfahrt für das Rote Kreuz und welche für euch selbst?
Michael Gruber: Für das Rote Kreuz ist die Wallfahrt ein starkes Symbol für Zusammenhalt. Sie führt mir vor Augen, dass wir im Roten Kreuz nicht nur Einsätze bewältigen, sondern auch miteinander unterwegs sind. Für mich persönlich ist sie ein Innehalten, ein gemeinsames Gehen, das uns verbindet. Der Begriff „Wallfahrt“ stammt von „wallen“ – sich ziehen lassen, einer Richtung folgen. Und genau darum geht es: um einen Weg und ein Ziel. Auf diesem Weg öffne ich mich für Begegnungen, für die Geschichten der anderen, aber auch für mich selbst. Ich teile die Strecke, die Herausforderungen, die Freude und entdecke dabei nicht nur neue Seiten an meinem Gegenüber, sondern oft auch an mir selbst.
Johann Windisch: Das Rote Kreuz trägt einen Auftrag in sich, gemeinsam mit jeder Religion und über jede Grenze hinweg. Wo auch immer das Rote Kreuz, der Rote Halbmond oder der Davidstern zu finden ist, dort wird geholfen. Genau darum geht es bei der Wallfahrt: Der Stärkere denkt an die Schwächeren, Kameradschaft entsteht über Grenzen hinaus und am Ende erkennen wir: Wir sind alle gleich, wenn wir zusammen feiern.
Stefan: Jetzt haben wir gesagt, dass Wallfahrt auch innere Auseinandersetzung bedeutet. Wie geht ihr persönlich damit um?
Michael: Ja, Wallfahrt heißt auch hadern: „Warum gerade ich?“ In Mariazell, einem Ort, der seit Jahrhunderten Menschen bewegt, wird dieser Gedanke besonders spürbar. Man muss nicht gläubig sein, um das Gefühl zuzulassen – sowohl positive Momente als auch Sorgen und Zweifel. Jeder im Roten Kreuz bringt seine eigenen Talente ein, und genau so ist auch Wallfahrt: individuell. Für manche ist es die Messe, für andere der gemeinsame Weg oder das Mahl danach. Wie heißt es so schön? „Der Heilige Geist weht überall.“
Stefan: Die Seelsorge hat viele Facetten – von der Begleitung in herausfordernden Momenten bis hin zur geistigen und spirituellen Stärkung. Was bedeutet Seelsorge für dich persönlich?
Michael: Seelsorge heißt für mich, den Menschen in seiner Ganzheit zu sehen – mit all seinen Sorgen, Ängsten und auch mit seiner Freude. Sie bedeutet, jemanden anzunehmen, ohne Bedingung, so wie er ist. Im Roten Kreuz erlebe ich täglich, wie wertvoll es ist, wenn Menschen spüren: Ich werde gesehen, ich werde ernst genommen. Das schenkt Halt, manchmal sogar in Momenten, in denen Worte nicht mehr reichen.
Stefan: Das Rote Kreuz steht für Menschlichkeit und Gemeinschaft. Welche Rolle spielt dabei die Offenheit – gerade im Hinblick auf Herkunft, Glauben oder auch unterschiedliche Lebensentwürfe?
Michael: Offenheit ist für mich ein Herzstück unserer Arbeit. Bei der Wallfahrt und im Roten Kreuz überhaupt geht es nicht darum, woher jemand kommt, woran er glaubt oder wen er liebt. Jeder Mensch ist willkommen – so wie er ist. Ich bin überzeugt: Gott segnet nicht nur einzelne Gruppen, sondern alle Menschen gleichermaßen. Genau das wollen wir sichtbar machen. Gerade eine moderne Sichtweise auf Themen wie Homosexualität oder freier Glaube ist wichtig, weil sie zeigt: Menschlichkeit endet nicht an Grenzen oder in Schubladen. Wir feiern das Leben in seiner Vielfalt und diese Vielfalt macht uns als Rotes Kreuz reicher.
Stefan:Lieber Johann, du hast als ehemaliger Leiter des Jugendrotkreuzes nicht nur über viele Jahre hinweg das Jugendrotkreuz geprägt, sondern auch alle bisherigen Rotkreuz-Wallfahrten in der Steiermark begleitet. Erinnerst du dich sich noch an deine erste Wallfahrt?
Johann: Ja, sehr gut sogar. Meine erste Wallfahrt war von Neugier geprägt und von der besonderen Energie, die entsteht, wenn Menschen gemeinsam unterwegs sind. In der Kirche gab es den Friedensgruß, und beim Blick in die Augen meiner Kolleg:innen spürte ich, wie wir uns gegenseitig nur das Beste wünschten und auch Danke sagten. Dieser kraftvolle Moment ist mir bis heute in Erinnerung geblieben.
Michael: Genau, dieser Friedensgruß ist unsere Aufgabe. Der Segen Gottes bedeutet für mich: „Ich wünsche dir etwas Gutes.“ Und dieses Gute gilt nicht nur den Menschen, die in einer Kirche stehen, sondern allen ganz gleich, welche Herkunft, welchen Glauben oder welche Lebensweise sie haben. So ein Moment steckt einfach voller Kraft und Nächstenliebe. Man spürt, wie Verbundenheit entsteht, wie gute Wünsche über Worte hinauswirken. Und genau das ist es, was wir bei der Wallfahrt erleben und weitergeben wollen.
Stefan:Lieber Johann, du hast die Wallfahrt nicht nur als Teilnehmer, sondern auch als Begleiter vieler junger Menschen erlebt: Warum ist eine Wallfahrt auch heute noch für Jugendliche interessant und relevant?
Johann: Jugendliche suchen Gemeinschaft, Austausch und Orientierung. Eine Wallfahrt bietet genau das, auf eine sehr natürliche und authentische Weise. Es geht nicht darum, Grenzen zwischen Religionen oder Kulturen zu ziehen, sondern gemeinsam einen Weg zu gehen. Ich erinnere mich an eine Jugendgruppe: Wir besuchten eine Messe, sangen mit, und erst danach wurde mir bewusst, dass ein Drittel evangelisch war. Niemand hat unterschieden. Weder „deine Kirche“ noch „meine Kirche“ spielten eine Rolle. Wichtig war, das gemeinsame Erleben und die Reflexion auf der Heimfahrt. Genau das bleibt: die Erinnerung an das, was uns verbindet.
Stefan: Gibt es eine persönliche Erfahrung oder Begegnung im Rahmen der Wallfahrten, die euch besonders in Erinnerung geblieben ist?
Michael: Für mich bleibt besonders die gelebte Toleranz in Erinnerung. Bei jeder Wallfahrt begegnen uns unterschiedliche Zugänge und Perspektiven – und Toleranz bedeutet, diese Vielfalt nicht nur zuzulassen, sondern wirklich zu würdigen. Die Grundsätze des Roten Kreuzes spiegeln das wider: den Menschen in den Mittelpunkt stellen, mit all seinen Stärken und Schwächen. Jeder darf angenommen sein. „Aus Liebe zum Menschen“ darf dabei kein bloßer Leitspruch bleiben – es muss gelebt werden. Und genau das macht für mich diese Momente so besonders.
Johann:Besonders eindrucksvoll ist für mich im Rahmen der Wallfahrt die Fahrzeugsegnung. Sie trägt eine tiefe Symbolik: Dass alle, die sich in den Dienst am Nächsten stellen, gesund wieder von ihren Einsätzen zurückkehren. Es ist ein Moment der Dankbarkeit, aber auch ein Versprechen für die Zukunft.
Stefan: 2019 fand die letzte steirische Rotkreuz-Wallfahrt nach Mariazell statt. Warum ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, diese Tradition wieder aufleben zu lassen?
Michael: Jetzt ist genau der richtige Moment. Eine Wallfahrt richtet den Blick auf das, was wir haben – und das ist viel. Im Roten Kreuz Steiermark engagieren sich mehr als 13.000 Menschen. Natürlich gibt es Sorgen und Herausforderungen, aber genauso viele schöne Erlebnisse und Erfolge. Wir haben ein neues Präsidium, eine neue Landesgeschäftsführung und ein neues Gebäude. Viele Mitarbeiter:innen waren zuvor über verschiedene Standorte verteilt, und die Wallfahrt bietet die Gelegenheit, zueinanderzufinden, sich auszutauschen und ganz bewusst „Danke“ zu sagen.
Stefan: Danke sage auch ich, für dieses eindrucksvolle Gespräch!
Die 10. steirische Rotkreuz-Wallfahrt
Einen Rückblick auf die Wallfahrt am 4. Oktober mit einer großen Bildergalerie gibt es hier.